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Horden und Helden
In der Vergangenheit wurden die Normen von den Führern der Stämme oder den Familienclans festgelegt, die dann in entsprechende Erzählungen verpackt wurden, um sie dem gemeinen Volk zu vermitteln. Dies geschah durch Schamanen, Priester und Geschichtenerzähler. Deren Erklärungen der Welt erschufen den jeweiligen Zeitgeist. Heute sind es die Führer politischer oder kommerzieller Organisationen und die modernen Geschichtenerzähler, die Medien, die den Zeitgeist erschaffen.
Aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, ob nun in Ur- oder Neuzeit, ist immer eine zutiefst traumatische Erfahrung und fest als eine Urangst verankert im Unterbewusstsein eines “Hordentieres”, was der Mensch nun mal ist (und kein Herdentier, was ein folgenschwerer Irrtum ist z.B. bzgl. der geeigneten Größe von Orten sowie staatlichen und sozialen Gebilden). Der unerträgliche emotionale Schmerz des Nicht-Angenommen-Werdens durch die Gemeinschaft, das Nicht-gesehen-werden als das einzigartige und wunderbare Wesen, das jeder Einzelne nun mal ist, erzeugt das am weitesten verbreitete Trauma schlechthin. Dieses weitestgehend unbearbeitete Urtrauma erklärt nicht nur die heutige verrückte Weltlage, sondern auch alle anderen unvernünftigen und z.T. sehr grausamen Handlungen, die Menschen sich gegenseitig zufügen können. Die meisten solcher Handlungen spielen sich ab innerhalb von Familien. Doch genauso kann ein Stamm plötzlich einen anderen angreifen, obwohl man vorher immer in friedlicher Nachbarschaft gelebt hat. Krieg zwischen ganzen Nationen – dann, wenn der Mensch vom Horden- zum Herdentier geworden ist, ist dann der ultimative Höhepunkt dieses kollektiven Traumas, das sich dann in einer psychotischen Handlung nach außen hin entladen will.
Für eine empfindliche Person ist es heute oft leichter sich zu entfernen aus der angestammten Gemeinschaft und z.B. in eine große Stadt zu ziehen. Dort erlebt man in der Regel größere Toleranz und Offenheit, aber eben auch mehr Gleichgültigkeit und Anonymität anstatt der Verbindlichkeit einer dörflichen Gemeinschaft. Auch wenn heute wirtschaftliche Gründe meist der Hauptgrund für den Umzug in Großstädte zu sein scheinen, so sind individuelle Freiheit und bessere Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung bewusst oder unbewusst die Hauptantriebskräfte, zumindest für die neugierigen, kreativen und dynamischen Kräfte einer Gesellschaft. Sie sind es in Wirklichkeit, die eigentlich die Drehbücher der Geschichte schreiben, denn sie prägen den Zeitgeist. Für eine Gemeinschaft ist das eine äußerst wichtige soziale Gruppe, ohne die eine Kultur sehr schnell stagniert und nur noch vor sich hinvegetiert. Diese Landflucht hin zu den großen Städten ist zu werten als Ausdruck der tiefen menschlichen Sehnsucht, sich selbst mehr spiegeln zu können in den verschiedenartigsten Charakteren einer Stadt. “Erkenne dich selbst”, lautet die Inschrift über dem Eingang zum antiken Orakel von Delphi. Es ist die starke Sehnsucht des Einzelnen, endlich sich selbst sein zu können, die nicht nur Städte und Reiche geschaffen hat, sondern unserer Kultur auch geistige und kreative Höhenflüge beschert hat. Diese wären nie erreicht worden wären, wenn nicht die mutigsten Individuen immer wieder aus den Normen der Gesellschaft sowie den damit verbundenen Narrativen herausgetreten wären. Diese Mutigen sind die Frontläufer jeder neuen Entwicklung. Es sind diejenigen, die den Turmbau zu Babel einst vorangetrieben haben, und genauso sind es jetzt diejenigen, die diesen Turm als erste wieder verlassen werden, um mit neuen Ideen des Zusammenlebens zu ihren Stämmen zurückkehren, noch bevor der “göttliche Zorn” die Sprachverwirrung schicken und den wahnsinnigen Turmbau beenden und als Ruine zurücklassen wird. Die Cyber-Pandemie lässt nämlich schon grüßen. Was allerdings der biblische Prophet von damals offenbar nicht als Möglichkeit in Erwägung gezogen hat, das ist, dass der Turm vorher noch umgebaut werden könnte zu einem riesigen Gefängnis. Möge seine utopische Prophetie eintreffen statt der dystopischen der Neuzeit.
Warum so wenige Helden?
Alle Epochen der Menschheitsgeschichte erzählen von ihnen, den Frontläufern des Zeitgeists, von Göttern und Helden, von den Kämpfen und Leiden, von den erfolgreichen Siegern und den tragischen Verlierern. Bis heute werden diese Geschichten jeden Tag aufs Neue erzählt, jetzt nur in moderneren Versionen, vermittelt durch moderne Medien. Unter all diesen abertausenden von Geschichten wird man jedoch kaum eine finden, die nur von der tristen Monotonie eines Alltags handelt, einer Monotonie, wie sie für die große Mehrheit der Menschen tägliche Realität ist! Warum liebt die überwiegende Mehrheit der Menschen Dramen und Heldengeschichten, wünscht aber anscheinend für sich selbst offensichtlich nichts anderes als einen einigermaßen mühelosen und halbwegs angenehmen Alltag?
Warum bewundert die Mehrheit all diese Helden und Heldinnen, will aber selbst nicht so sein wie sie?
Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage war und ist eine der starken Triebfedern für dieses Projekt gewesen. Eine Teilantwort auf diese Frage kann bereits all jenen gegeben werden, die fest davon überzeugt sind, dass die meisten Menschen nur unterhalten werden wollen mit Illusionen eines aufregenderen Alltags als dem eigenen, also Geschichten hören wollen zwecks Ablenkung von der eigenen Eintönigkeit, und dass dies der Hauptgrund wäre, warum all diese dramatischen Geschichten so beliebt sind, und dass es schon immer so war und dass es immer so sein wird. Ein solches Menschenbild entspricht nicht der vollen Wirklichkeit und übersieht das Wunderbarste am Wesen des Menschen, nämlich die eigene Schöpferkraft. Die Selbsterkenntnis darüber ist der Stoff, aus dem Hrelden und Heldinnen gemacht sind.
Photo credit to: aaron@aaronbrickdesigner.com (Gods and heroes image)